Aufbruch 89
Gestern sah ich die zwei Dokumentation der DEFA: „Originale 1989 – Aufbruch in Leipzig“ Und „Herbst in Dresden“ Diese Filmaufnahmen wurden von einem kleinen Dokumentationsteam der DEFA gedreht in Schwarz-Weiß und zeigen in einer intimen Einblick die Grundstimmung als auch Einzelmeinungen, Beobachtungen und Analysen von Bürgern, wie auch Kirchenverantwortlichen und Politikern und zwar kurz nach den ersten größeren Demonstrationen Anfang bis Mitte Oktober 1989.
Was bewegte die Menschen?
Die Gespräche, Gedanken und geäußerten Problemen der Menschen sind in der Rückschau von erstaunlicher hoher geistiger Qualität, will heißen, sie befassen sich mit dem Grundkonsens des gesellschaftlichen Miteinanders, des gemeinsamen Zusammenlebens des Menschen und seiner Regularien. Ihre Gedanken und Wünsche sind weitgehend abseits von habgierigen materiellen Vorstellungen, sondern bewegen sich in einem oftmals erhabenen gedanklichen Raum der Frage der Gesellschaftsform, der Mitbestimmung, der Wunsch nach Veränderung und Ehrlichkeit. Es geht um solche Attribute wie Vertrauen, Reformen, Demokratie, Schuld, Richtung. Wie sich in vielen Perspektiven zeigen soll, sind viele in ihrer Ansicht und Projektion gar nicht so weit entfernt vom kommunistisch proklamierten Idealbild des Menschen. Dieser Grundkonsens von Humanismus, Gleichheit, Demokratie und Offenheit, der ja partiell auch im kommunistischen Ideal beheimatet ist trägt die neue Bewegung. Und dieses Idealbild, das im Hintergrund ja immer gezeichnet wurde, ist vielleicht auch eine Triebkraft, da sich in seinem Vergleich mit der Realität immer mehr gesehene Differenz zeigte und weiter zuspitzte. Kennzeichnend die allseits von der Partei verkündete bekannte Parole „Mit dem Volk und für das Volk“ Ja wo denn, bitteschön? An dieser Versprechung musste sich die Führung, ja das ganze System messen lassen und beweisen. Das tat es offenbar nicht mehr und der Wunsch nach Aufbruch wurde nun lautstark eingefordert.
Zunächst wird ein unwahrscheinlich geöffneter Rückstau und damit eine schier unkontrollierbare Eruption aufgestauter, und hier meine wich wirklich Jahrelang enorm und zum zerbersten aufgestauter Energie ersichtlich, die sich nun in einer gigantischen, alles durcheinander wirbelnden Fontäne ihren Weg ins Freie bahnt. Es ist wie eine Verpuffung, eine Explosion oder eine Eruption.
Was kennzeichnet eine Eruption? Diese musste sich zunächst anstauen durch das zurückhalten ihrer Energie, jahrelangens den Deckel draufhalten. Nun bahnt sie sich mit enormer zerstörerischer und schneller Kraft den Weg ins Freie. Zisch! Sie ist
- schnell
- zerstörerisch
- allseits
Innerhalb weniger Tage im Oktober wendet sich das Blatt komplett. Alles wird durcheinandergeworfen. Und alles wird in Frage gestellt. Welche Werte sollen jetzt noch gelten? Auf was wollen wir bauen? Wo wollen wir hin? Erstmal raus. Aber dann. Wohin? Auf wen können wir vertrauen? Was ist jetzt wichtig? Was und wo soll etwas verändert werden? Alles! Alles wird in Frage gestellt und fliegt durcheinander. Allen voran die Führungspersonen, das System der Wahlen, die Parteien, die Organisationen, das Wirtschaftssystem, Frauenpolitik, das Bildungssystem, die Wehrpflicht, die Armee, die Polizei, und vor allem ein ganz giftiges und unappetlitliches Objekt: der Geheimdienst – die Stasi. All dieses wird in den kommenden Wochen beginnend zunächst schleichend kritisiert und hinterfragt, schließlich oftmals komplett entwertet und verworfen. Dabei wird so manches Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Den beteiligten ist in ihrer Wut, in ihrem Enthusiasmus und Aufbruchgeist nicht klar, dass einen Turm aus Holzbausteinen einzureisen leicht ist, einen Neuen aufzubauen aber schwer, und ob der Neue viel schöner und besser ist als der Alte, ist so klar auch nicht. Es kann sein, dass viele während des Bauens abspringen und murren, entweder dem alten Turm nachtrauen oder sich anderen Türmen des Nachbarn, die größer und schöner sind zuzuwenden. Diese sind aber schon fertiggebaut und bedürfen keiner eigenen Anstrengung und Selbstwirksamkeit mehr.
Kennzeichnend also: Die Eruption beginnt durch einen kleinen Funke – ihren Fortgang und ihr vor allem ihr Ende nimmt sie aber in gänzlich am Anfang ungeahnten Bahnen und Dimensionen. Stark vereinfacht: Aus dem Wunsch nach einem menschlicheren Sozialismus, dem Ruf nach einer gerechteren und besseren DDR wurde der Anschluss ihres Territoriums mit allen „Insassen“ an das westdeutsche Staatssystem BRD mit allen Vor- und Nachteilen. Doch der Reihe nach.
In den ersten Tagen geht es um Offenheit um Öffnung, um Gehör, um Reformbereitschaft, Um Dialog, Gespräch, Demokratie – Glasnost und Perestroika. In diesem allerersten Anlauf des Dialogs hatten die bestehenden Strukturen noch ihre Daseinsberechtigung – war der Glaube der inszenierenden Protagonisten noch, auf bedien Seiten, sie könnten innerhalb des Systems Reformen durchführen, ohne das sie ahnten dass sie in diesem Moment ihr eigenes Grab zu schaufeln begannen. Auch auf beiden Seiten: Die Regierenden und die Bürgerrechtler.
Honni muss abtreten und wird schon bald von einer Lawine des bodenloses Hasses, der Verachtung und gnadenloser Bestrafung heimgesucht. Auch Genosse Krenz kann sich trotz redlicher Bemühungen nicht das Vertrauen des Volkes erarbeiten. Sollen wir nun der alten Partei weiter vertrauen und ihren reformbereiten Figuren wie Hans Modrow und Gregor Gysi? Oder den Protagonisten der Bürgerbewegung und Opposition? Bärbel Bohley, Jens Reich und Wolfgang Diestel? Um nur einige zu nennen, denn das Personenkarussell innerhalb der Reformbewegung ist groß, unbekannt und unübersichtlich.
Besonnenheit – Dialog statt Gewalt
Diese Kraftstrahl des Aus- und Aufbruch hat bisweilen auch eine zerstörerische vielfältige wie auch alles durcheinander wirbelnde Energie, und man muss staunen wie besonnen sie sich doch angesichts vieler nachdenklicher und geistlich verfasster Menschen sie sich in den Interviews zu ordnen sucht. Das macht deutlich, dass die Deutschen bei aller Euphorie und aufgestauter Wut ein zivilisiertes Völkchen sind, dass sich größtenteils (nicht ohne ausnahmen) selbst in einer solchen Situation zu beherrschen sucht.
Und statt dem südländisch-arabischen Feuereifer der laut Allahuakbar ruft, und gern seiner Emotion mit deiner Kalaschnikow und Luftschüssen oder mit dem Messer Ausdruck verleiht so belies es der Deutsche bei lautstarken Sprechchören, kreativ-witzigen Transparenten Fürbittgebeten, mal wirschen und mal vernünftigen Dialogen der Sprache. Man kann es ein Stückweit dem deutschen Gemüt, das dem kühlen Gedanken sucht, aber wohl auch seiner Ängstlichkeit, und seiner reichhaltigen Geschichte, wie auch dem im Geist des Humanismus und Sozialismus erzogenen Geist zurechnen, das die aufgestaute Wut nicht wie in anderen Kreisen durch blutige Stammesfehden oder rivalisierende Bürgerkriege ausgetragen wurde. Ceaucesu wurde einfach erschossen. Immerhin ergingen sich später im nacherigen Trotz und Rachsucht auch etliche in Verwünschungen und Todesdrohungen gegen den greißen Honecker. Der nur wenige Monate nach seiner noch ehrenhaften Entlassung nun auch die Rolle des Sündenbocks spielen musste. Von seiner Partei auf der Suche nach Schutz im Stich gelassen, musste er dann bei der Kirche um Unterschlupf suchen.
Sinnhaftigkeit und Obsoleszenz von Reformperspektiven
Was wird aus den Informationen und Gedanken der Protagonisten und Interviewpartner deutlich?
Die hernacheilende Obsoletheit ihrer Gedankenspiele ist für mich beinahe tragisch-amüsant, dennoch spiegelt sie die gesellschaftliche Kraft, Ideenreichtum und dein einzelnen wie kollektiver Wille zur Umgestaltung, gleichzeitig aber die Tragik ihrer Undurchführbarkeit in dem vorhandenen Rahmen. Sie zeigen den Wille zur Verbesserung aus sich selbst heraus, aus eigener Kraft und mit eigenen Ideen. Der Glaube an das System DDR ist in Sorge, aber dennoch vorhanden. Dies zeigt sich bei allen „Die hier bleiben hier“ rufen. Sie wollen anpacken, sie wollen umgestalten, sie wollen das Blatt zu Guten wenden. Endlich. Ihre Köpfe sind voller Ideen, wie es nun weitergehen soll und kann. Wie man die Karre wieder aus dem Dreck bekommt. Wie man die Lok wieder aufs richtige Gleis schickt und flott bekommt. Doch wer wird die Gedanken und Ideen ordnen? Wer wird sie umsetzen und wie? Wo fügen sie sich ein?
Zu diesen Zeitpunkt ahnt noch KEINER, dass all diese Gedankenspiele Produkte für den Papierkorb sein werden. Die schon bald einsetzende sich subtil voranschleichende Vereinigungsfrage musste alle Planspiele von Reformen des vorhanden Systems über den Haufen werfen, da diese den Weiterbestand des Systems DDR -in welcher Form auch immer- selbstredend und selbstverständlich implizierten. In den ersten kostbaren Wochen der Wende haben wir die wohlverdiente Abwesenheit einer Möglichkeitsvariante. Nur diese konnte das Klima erzeugen, dass viele Bürgerrechtler sich über Reformen innerhalb der DDR Gedanken machten. Die, gottseidank, in dieser aufregenden und schweren Stunde niemand auf dem Zettel hatte.
Stellen sie sich vor, sie streiten sich mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin stunden und tagelang ob sie ihr kleines, aber feines Häuschen nun weiß oder grün anmalen. Über Stunden wird debattiert, wir verworfen, gefeilt und geplant, Argument folgt auf Gegenargument, werden sich Köpfe heißgeredet, es gibt Gelächter Beschimpfungen, Drohungen, Mahnungen zur Vernunft. Einen Kompromiss zu finden ist äußerst schwierig. Während sie debattieren, macht sich der Rest der Familie jedoch auf die Suche nach einer anderen Bleibe. Scheinbar vom Himmel geschickt finden ihre Kinder einen Sponsor, einen Glücksritter, der ihrer Familie ein neues Haus anbietet, nicht nur ein Haus, eine Villa. Diese ist wunderschön, alles ist hergerichtet, es glänzt und funkelt. Nicht zu vergleichen mit ihrem alten kleinen schäbigen Häuschen, das viel Reparatur benötigt hätte. Wer kann dazu schon Nein sagen? Während sie sich streiten wie ihr kleines Häuschen zu reparieren wäre und sich nicht einigen können beschließt der Rest der Familie aufzubrechen und in die Villa umzuziehen.
Ihre ganzen Ideen und Vorschläge, ihre Tagelanger Streit war für die Katz!
Der urdemokratische Prozess der Anfang Oktober 1989 in der DDR begann hatte eine unvergleichliche Schönheit, Brillanz und Vielgestaltigkeit, dennoch wird oft vergessen, daß er eben im Schutzraum und auf den Fundamenten seines durch sich nun selbst in Frage zu stellenden einengenden und scheinbar unaushaltbar gewordenen Systems stattfand, und nur durch diesen möglich wurde und auch blieb. Das war auch den revolutionären Protagonisten in ihrem Denken und Handeln kaum bewusst. Sonst hätten sie viel behutsamer vorgehen müssen. Was ja schon aus sich selbst heraus kaum möglich erscheint. Ein Revolutionär ist jemand der ein System in Frage stellt und umwerfen will. Er ist keiner der das System, welches in einengt und verfolgt auch noch lobhudelt und mit ihm paktieren würde. Oder?
Ebenso wie ein Dissident das verfolgende System um seiner selbst willen braucht – sonst wäre er nämlich Keiner, sondern allenfalls ein halbbegabter Komiker und Klamauker deren Witze und Anspielungen aber keiner versteht – im Westen versteht ihn nämlich keiner und brauchen tut ihn auch keiner dort.
Die Bürgerrechtler des Neuen Forums machten, verkürzt erklärt, einen einfachen logischen Fehler: Sie wollten das System stürzen und die DDR gleichzeitig weiterentwickeln. Bei einem Inseldasein der DDR auf der Welt wäre dies gelungen. Es wäre den Menschen ja auch gar nichts anderes übrig geblieben, als aus den Trümmern des alten etwas neues zu bauen. Ähnlich wie nach dem Krieg. In so einer singulären Insellage befand sich die DDR aufgrund ihrer besonderen geostrategischen Lage aber nicht. Einfach erklärt hatten die Revolutionäre zu wenig der Gefahr Beachtung geschenkt und dieses überhaupt einkalkuliert, dass ein anderes Staatssystem bereitstand um die gesamte DDR einfach zu verschlucken und alle zarten Reformbemühungen und Ideen System plattzuwalzen und obsolet zu machen. Das einfach Volk würde diesen Geschehen größtenteils noch zujubeln und das gewaltsame abwürgen ihrer eigenen Selbst-Erneuerung bereitwillig annehmen.
Der Zirkelbezug
In Excel gibt es die Fehlfunktion des Zirkelbezuges. Diese Funktion ist nicht erlaubt, und gibt eine Fehlermeldung aus. Damit ist gemeint, wenn sie das Ergebnis einer Formel im gleichen Feld darstellen wollen wie den Ausgangsfaktor. Will heißen zum Beispiel: A1 = A1x30. Diese Formel ist nicht zulässig. Wenn sie das Ausgangsprodukt ändert sich in der gleichen Geschwindigkeit, also gleichzeitig das Ergebnis dessen in sich selbst.
Einen ähnlichen Effekt gibt es bei den Darstellungen und Gedanken zur Wendezeit. Alle Planspiele und Gedanken, Ideen und Reformen müssen im Gedankenraum und Mechanik (neudeutsch sagt man jetzt Frame) der sachlich, materiell und ideell (noch) vorhandenen DDR stattfinden – einen anderen Rahmen gibt es nicht, oder er ist glücklicherweise (noch) nicht bekannt. Allerdings ist den Protagonisten oftmals nicht klar, dass bei vielen Reformen und Reförmchen, Absetzungen und Rücktritten das ganze System instabil und verändert wird. Durch eine Veränderung des Rahmens wird auch das Deutungsgewicht ihres eigentlichen Ursprungs wieder anders. Und genauso veränderte sich auch die Rolle der Protagonisten.
Ganz einfaches, aber plastisches Beispiel: Die Bürgerrechtler des Neuen Forums riefen nach Demokratie, nach freien Wahlen. Was hätten sie auch sonst anders tun sollen in einer wie auch immer gearteten „Diktatur“. Hätten sie denn auch so laut gerufen, wenn ihnen in diesem Moment bereits bekannt wäre, dass diese endlich möglich gewordenen Wahlen sie mit einem Wahlanteil von nicht einmal 3% ins Abseits schieben würde? Was hätten sie angesichts dieser Aussichten getan? Die schwierigen Antworten auf diese Frage verdeutlichen die beinahe Unmöglichkeit des Vorhabens.
Wird also nun der Ruf nach Demokratie und freien Wahlen lauter so bricht dadurch auch die gewohnte Struktur des einheitlich verordneten, zwar verhassten aber dennoch Sicheren und Gleichbleibenden. Nun haben die Bürger zwar die „Demokratie“ – jedoch die eben verspürte und staatlich verordnete Einheit ist verschwunden – sie löst sich nun auf in dem angestrebten Nachgehen der Partikularinteressen.
Gleichfalls auch der Ruf nach mehr Leistungsgerechtigkeit im Arbeitsprozess, führte man diese nun ein, was bei Produktionskennziffern noch einfach, bei kulturell, Geistes- oder verwaltungsschaffenden aber schwierig bis unmöglich, so verändert man nun gleichzeitig den Deutungsrahmen. Der behütende Rahmen des Sozialstaates ist nun verschwunden. Die Einführung von Leistungsgerechtigkeit oder Leistungsbezahlung muss nun wieder zahlreiche neue Probleme, Fragen und Ungerechtigkeiten aufwerfen die einen neuen Rahmen erzeugt und die vorher gehabte Gleichmacherei und gefühlte Sicherheit wiederrum gegensätzlich zur vorher eingenommenen perspektive attraktiv erscheinen lässt.
Etwas trivial ähnliches kennt man der Partnersuche zwischen Mann und Frau: Die die draußen sind, wollen hinein und die drin sind wollen raus.
Die Erfüllung des Wunsches erfüllt und zerstört diesen zugleich. Lenzsche Regel: Die Induktionsspannung wirkt immer ihrer Ursache (Änderung des magnetischen Flusses) entgegen.
Insofern war der DDR-Bürger ein Stück weit angetreten sich an der Quadratur des Kreises zu versuchen ein System zu reformieren, dass irgendwie funktionierte aber eine Menge Überdruck erzeugte. Griff er in dieses System ein und versuchte ein Zahnrädchen zu verändern so musste er vielleicht feststellen, dass sich nur durch Änderung eines kleines Rädchens die ganze Farbe und Richtung des System ändert und somit auch die Bedeutung seines kleinen Zahnrades. Das nun erst als Fortschritt gesehene wird nun möglicherweise als Störenfried oder Hemmschuh entdeckt und wird das zum Übel.
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