Konfrontation – Wenn Illusion auf Wirklichkeit trifft

Und: Das Hirn hat nur Fünf Sekunden zeit das Ganze zu verarbeiten

Bereits vor Wochen wollte ich bereits einen kritischen Text darüber schreiben, welche verschiedensten Faktoren alle auf den „Beziehungs-Markt“ einfließen. Nun kam das Thema durch ein Video das Thema wieder aufs Tablett. Es zeigte genau übereinstimmend mit meiner Wahrnehmung und Denkweise wie ironischerweise die Möglichkeiten der modernen Kommunikation Beziehungswege und -möglichkeiten zerstören.

Das Internet hat als eine Technologie unzweifelhaft die Zivilisation der modernen Menschheit auf eine neue Stufe gehoben. Ich kann mich noch an meine Anfänge mit dem Internet erinnern. Es muss 1998 gewesen sein, damals noch mit einem analogen V.56 Modem, welches die übrige Telefonleitung blockierte. Dh. es war dann nicht mehr möglich anzufrufen oder Anrufe entgegenzunehmen, wenn man mit dem Modem ins Internet ging. Ein Fakt der mir übrigens viel Ärger in meinem elterlichen Zuhause einbrachte. Das Internet verbindet Menschen. Das schon damals für mich Spürbare wie „Wahnsinnige“ ist, das man Menschen tiefgründig kennenlernen kann sozusagen in ihrem innersten Kern, gleichzeitig bleiben aber viele Persönlichkeitsmerkmale verborgen. Es ist sozusagen ein Paradoxon. Kurz gesagt: So nah, und doch so fern. Dieses Phänomen habe ich bereits damals stark zu spüren bekommen. Es begann mit einem Chat einer Irin die wohl auch noch eine sehr ambitionierte Violinistin war auf dem Verve Chat von Stern. O Gott, ist das lang her. Später konnte ich umfangreichste Sozialstudien und Chat- als auch Real-Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Freie-Presse Chat sammeln, ein Chat-Room der Tageszeitung meiner Heimatstadt. Das war um das Jahr 2000 herum.

Nebenbei bemerkt fällt mir gerade auf, das sie sogenannten Chatrooms im gegenwärtigen Internet an Bedeutung wohl stark verloren haben. Der große Hype und die Faszination welche sie damals als neues Medium ausübten, scheint angesichts von Social-Media wie Facebook, Instagram und Youtube, als auch Messenger Diensten wie WhatsApp, sich überlebt zu haben.

Was passiert, wenn du jemanden im Wesentlichen nur über Textkommunikation kennenlernst?

Dazu hast du als einzigen ergänzenden visuelle Informationsquelle ein mickriges, aber dafür umso plakativeres Standbild deines Chatpartners, falls er überhaupt ein zur Verfügung gestellt hat. Zunächst ist da erst einmal nie gekannte die Faszination, gerade für einen schüchternen sozial eher relativ isolierten Menschen, der gerade zum anderen geschlecht eher unterepresntierte Kontakte hat. Du kommunizierst mit einem echten fremden Menschen. Erstens merkt man also, es geht um Gedanken. Zweitens erfolgt die Verbindung dieser Gedanken über Sprache, hier Textsprache, keine gesprochene Sprache und KEINE Körpersprache. Dieser andere Mensch meint genau dich. (Falls er in einem privaten Raum 1:1 mit dir chattet). Damals war es für mich knallrote Schrift auf schwarz, statt blasses orange auf schwarz. Textzeilen die ausschließlich genau mich meinten. Und Interesse an mir offenbarten. Faszination des Gedankenzugangs, sehr schnell auf einer tiefen und recht nahen und intimen Ebene ankommend. So wie wir im täglichen Leben eben gerade nicht so schnell jemand heranlassen würden. An unser Innerstes. Frauen sind Gefühlsmenschen. Es entsteht Sympathie. Aus Sympathie wird Sehnsucht nach mehr, weiterem Gefühl- und Gedankenaustauschs. Doch was ist mit dem wirklichen Menschen? Irgendwann beginnt die Phantasie zu spielen, gemeinsam sehen wir uns lächelnd und einander sympathisch austauschen, strahlen positiv und zugewandt. Hier beginnt bereits der erste Streich. Denn der andere erscheint uns vollkommen akzeptiert und wir ebenso ihn. Da Hirn fragt an dieser Stelle nicht, was passiert wäre, wenn wir zwei uns zufällig an der Supermarktkasse oder Bäckerschlange getroffen hätten. Wahrscheinlich hätte nichtssagende Ignoranz des jeweilig anderen uns getroffen. Das Hirn scheint in dieser Hinsicht zweifach rege aktiv: Es besitzt einerseits die Fähigkeit der visuellen Welt bekannten Tendenz der „guten Fortsetzung“. Das bedeutet es ersetzt fehlende Informationen nach seiner eigenen Interpolation um eine verarbeitbare Informationseinheit zu haben. Den irgendwie braucht das Wesen am anderen Ende der Leitung ja ein Gesicht, einen Körper, eine Stimme, einen echten Charakter. Eine Ausstrahlung die sich aus all dem zusammensetzt. Dan kommt die zweite Fähigkeit ins Spiel. Selbstbestätigungsneigung. In diesem Fall nenne ich es Best-Case Abschätzungsneigung. In all meinen Phantasien mit Frauen entwickelten die Beziehungen sich bei ihrer späteren kritischen Überprüfung immer im Sinne des bestmöglichsten Handlungsverlauf. Der Frauen so übliche Macken, wie inkohärentes Verhalten, Abweisung, Kühle, Nichtverstehen, angewidert oder irritiert sein ist in dieser Phantasie nicht vorgesehen. Ebenso nicht ein recht schräger oder auf den ersten Blick inkompatibler, dem Schönheits-Idealbild doch weit entfernter Charakter mit Ecken und Kanten. Es entsteht also das Idealbild einer schönen, oder sogar in meinen Augen perfekten Illusion. Aus dieser entstehen auf einer ganz unbewussten Ebene Erwartungshaltungen und Zukunftsprojektionen.

Konfrontation – Wenn Wunschvorstellung auf Wirklichkeit trifft

Was passiert, wenn ich mich (und vor allem mein Gegenüber) nun nach wochenlangem Chat, einer vielleicht schon beginnenden Verliebtheitsphase mit endlich zu einem realen Treffen durchringen kann? Um es kurz zu machen: Die Wahrscheinlichkeit eines unsanften Erwachens ist sehr groß. Die Illusion wird nun mit der Realität konfrontiert und diese ist nun mal weitaus stärker. Die Realität ist die einzige und alles maßgebliche, elementare Lebensumgebung, die für jeden von uns entscheidend ist. Vor allem weiß das auch das Unterbewusstsein und das lässt sich nicht so leicht hinters Licht führen oder selbsttäuschen, wie eine sehr bildhaft erzeugte Wunschvorstellung. Da fällt mir ein Spruch ein von Auto-Aufklebern ein: „Kein Schwanz ist so hart wie das Leben“. So stark, dass die Illusion sofort wie eine Seifenblase zerplatzt, und der Geist mitunter unsanft ob seiner süßlichen Erwartungshaltung auf dem Boden der Tatsachen landet. Die Dinge sind nun plötzlich ganz anders als erwartet, das Hirn muss viel leisten in solchen Sekunden der Ernüchterung. Es hat einen gigantischen Arbeitsberg der Umprogrammierung zu leisten. Das führt nicht selten dazu führt, dass du zu mindestens für Sekundenbruchteile die Contenance verlierst und dies ob der versuchten Wahrung des Scheins nach Außen (man will sich ja keine Blöße geben) und dies eben doch Mikroexpressions sichtbar wird. Alles schon erlebt. Vielleicht du auch?

Zukunftspläne (manchmal schon für eben jenes Date) können sich innerhalb von Sekunden jäh ändern. Die Frage ist, wie selbstbeherrrscht man ist (in verschiedensten Dimensionen), wie groß der Aufbau und der nachherige Einsturz der Kulisse war.  Ob man einen neuen, anderen Zugang zu dem neuen „es“, dem Charakter, diesmal durch und durch real und aus Fleisch und Blut, findet. Es konnte dazu führen, dass sich einseitig oder beidseitig tiefe Enttäuschung und Verstörung breitmacht, zu mindestens aber Verwunderung, dennoch das Bestreben aus Gründen der Höflichkeit und Anstands, des Prinzips der Hoffnung und des Optimismus die Situation zu retten, oder anfängliche Unsicherheiten zu überspielen. Es ist ein Sprung ins kalte Wasser. Hier zeigt sich auch das Gefühl nicht alles ist, sondern auch Training. Disziplin mit sich selbst und scheinbar „starre“ Regeln der Höflichkeit können ein Rest der Ehre, und vielleicht das ganze Date retten, wenn man es einem höheren Ziel widmet. Dieses Ziel könnte zum Beispiel sein: Freude am Leben und der gemeinsamen Erfahrung die ich in diesem Moment teilen darf. Freude an der Erkenntnis.

Diese Erkenntnis kann sein, dass sie uns nicht immer gefällt und das erwartete Optimum darstellt. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Der Weise erfreut sich auch an einer seltsamen, schrägen oder anfänglich scheinbar unangenehmen Erfahrung und nimmst diese mit Bewunderung hin. Er erfreut sich an der Mannigfaltigkeit des Lebens an sich und ist bereit ALLE Bandbreiten menschlicher Erfahrung anzunehmen und als Reichtum zu betrachten. Der Tor schlägt sie zugleich aus, er schlägt die Tür der Erfahrung sogleich zu, und wendet sich angewidert, eingeschnappt und verwöhnt ab. Für ihn ist einzig und allein die zuckersüße Erfüllung seiner hohen Erwartung des einzig und allein GEFALLENS seines Sinns maßgeblich. Dieses GEFALLEN ist die EINZIGE Präzedur seiner Entscheidungsgewalt. Immerhin bieten zahlreich ausgetauschte Gedanken und ggf. festgestellte Gemeinsamkeiten des vorherigen Chats Grundlage für genügend Gesprächsstoff die die anfängliche Verwirrung und Entfremdung wieder auflösen können.  Sofern man in der Lage ist, daran anzuknüpfen und auf dieser Grundlage eine gemeinsame Basis schaffen kann, die in der Lage ist die Entfremdungen und Ablehnungen durch andere Eindrücke zu überwinden. Und so weitergetragen auf die reale Ebene diese gemeinsamen Gedanken zu wiederholen und zu vertiefen. Das schafft Verbindung. Das Hirn braucht Zeit nach einige Minuten und spätesten einer Stunde ist das Gröbste geschafft.

Nun hast du herausgefunden wie der andere sich wirklich anfühlt. Was da ist. Ein echter Körper. Eine echte Stimme, ein echter Mensch. Echte, sicht- und greifbare Fehler(chen) und Unstimmigkeiten. Vielleicht auch neue Reize, kleine Besonderheiten an denen du Gefallen findest und in die du dich verlieben könntest?

Wie kann man der bösen Überraschung vorbeugen?

Im Selbstversuch erkannte ich sehr schnell, dass ein angetroffener Charakter aus dem Chat vom Gehirn in seiner Lückenfüllfähigkeit tatsächlich erdacht und visualisiert wird, dieses Abbild aber wenig mit der dann erscheinenden realen Person zu tun hat. Dieses Abbild wird um so intensiver und entfernter von der Realität, je länger man es betreibt. Das erscheint ja auch logisch. Das Hirn hat mehr Zeit, Rechenarbeit vorzunehmen. Das Illusionsbild wird stärker und facettenreicher, damit auch die Gefahr einer weiteren Entfernung von der Realität. Bei einem Chat, der nur drei Minuten vor dem realen Treffen stattfindet, ist der Aufbau so einer Attrappe gar nicht möglich. Was also bei Wörtern mit Buchstabendrehern ganz gut klappt und vorteilhaft ist, wird hier zum fatalen Bumerang, und sorgen nicht selten beim ersten Kennenlernen für eine unsanfte Bauchlandung. Das Kennenlernen beginnt dann nahezu bei Stunde Null noch einmal von vorn. Innerste Gedanken sind zwar wichtig, ergeben aber für das Gehirn in Zusammenhang mit der Stimme, dem Gesichtsausdruck, Körperbau und Bewegungsablauf, Kleidungsstil ein viel eindrücklicheres und elementareres Persönlichkeitsprofil, das entscheidet ob das Gegenüber denn noch interessant ist oder nicht. Der innere Bewerter ist gnadenlos und er ist egoistisch, in Äußerlichkeiten oft weit entfernt von einem hären und uneigennützigen

Was kann dabei helfen, diese Fehlentwicklung im Kennlernprozess abzuschwächen und den Abstand zwischen Illusion und Realität zu verkleinern? Telefonieren! Ich habe tatsächlich festgestellt, das Telefonieren hilft dabei in Zusammenhang mit mehreren guten Bildern ein realeres Bild von der Person zu bekommen. Dabei erkennt man die Stimme und Ausdrucksweise, daraus Gemütsbilder, Stimmungen und Charakterzüge, unbewusst setzt sich ein Einschätzungsprofil zusammen, das sich auf einer für den Menschen wirklichkeitsnahen ebene ansiedelt und nicht auf einer abstrakten wie der Textnachrichten aus einem Chat.

Zusammenfassung:

  • Das Internet und Chatten ist eine leichte Möglichkeit schnell und ohne die Hürden der Ansprechangst neue Menschen, insb. Geschlechtspartner kennenzulernen
  • Die Möglichkeit eines inneren Gedankenaustauschs ohne ablenkende Äußerlichkeiten ist verblüffend, so entsteht schnell ein Gefühl innerer Verbindung und Harmonie
  • Das Gehirn hat die Neigung fehlende Informationen zu ergänzen und erschafft aus den gewonnen Gedankeninformationen ein visuell vollständig erlebbares, illusionäres Bild des Gegenübers
  • Es hat die Tendenz, ein Idealbild des vollständigen Gefallens und hundertprozentigen Erfüllung unserer eigenen Wünsche und Sehnsüchte zu erzeugen, ferner blendet es Widersprüche und Konflikte aus
  • Das trifft sowohl für die Erzeugung des Partners zu als auch für die Interpolation für gemeinsame zukünftige Erlebnisse und Handlungen
  • Bei einem ersten Treffen kommt es häufig zu einer Ernüchterung oder Überraschung, manchmal auch Enttäuschung bei der Konfrontation mit der realen Person, je nachdem wie geübt man im Umgang mit solchen Situationen ist, und wie stark man in der Lage war den Aufbau eines Illusionsbildes zu bremsen und gedankliche Korrektive einzubauen
  • Das Gehirn hat in den ersten Minuten ungeheuer viel zu tun die neuen Eindrücke mit den in vielen Chat-Stunden gesammelten Informationen und Gedanken in Einklang zu bringen
  • Längeres Telefonieren und Austausch aktueller und lebensechter, ungeschminkter Fotos kann helfen, den Aufbau eines unzutreffenden illusionären Idealbildes abzuschwächen oder zu verhindern

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